Täglich werden in sozialen Netzwerken mehrere Millionen Tweets und Posts veröffentlicht. Insbesondere politische Themen von großer gesellschaftlicher Bedeutung werden auf Plattformen wie Twitter vielseitig diskutiert. So ist das Verfassungsreferendum in der Türkei seit einigen Wochen immer unter den Top-Themen zu finden. Da Umfragen zufolge beide Lager derzeit nahezu gleichauf liegen, ist der Kampf um die unentschlossenen Wähler in den sozialen Medien in vollem Gange. Dass die Meinungsbildung durch das Umfeld beeinflusst wird, ist in Social Media keinesfalls anders. „Persönliche Meinungen und Überzeugungen werden im Netz häufig mit mehr Offenheit und Nachdruck nach außen getragen“, erklärt Marc Trömel, Social-Media-Experte und Gründer von VICO Research & Consulting GmbH, „Da verfließt die Grenze in den sozialen Medien zwischen freier Meinungsäußerung zu politischen Gedanken und gezielter Beeinflussung sehr schnell“. Angesichts dieser Tatsache übt die Politik derzeit starken Druck auf die Betreiber der Social-Media-Plattformen aus, um sicherzustellen, dass strafbare Inhalte entfernt werden.
Einige Beispiele in der Vergangenheit haben gezeigt, weshalb diese Verordnung für Plattformbetreiber wie Facebook oder Twitter an Bedeutung gewinnt. Erst Mitte März wurden bei einem Twitter-Hack unangemessene Tweets von den Accounts tausender Nutzer, unter anderem auch prominenter Kanäle, veröffentlicht. Unter #Nazialmanya und #Nazihollanda wurden nationalsozialistische Anfeindungen gegenüber Deutschland und den Niederlanden verbreitet. Fraglich ist, wie groß der Einfluss solch propagandaartiger Äußerungen ist. Können sich unentschlossene Wähler mit den Aussagen identifizieren und für Erdogan und seine Ideologie stimmen oder schreckt es die Wähler ab?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, wurde in der Studie von VICO analysiert, wie die türkische Gemeinde in Deutschland, auf die Nazi-Vorwürfe der Türkei, reagiert. Werden die Handlungen der deutschen Regierung, hinsichtlich der Wahlkampfauftritte, gutgeheißen oder als Diskriminierung angesehen? Offiziell hat die türkische Gemeinde in Deutschland eine Nein-Kampagne zum Referendum gestartet. Die Vertreter des Vereins sehen in der Verfassungsänderung einen Abbau der Demokratie und möchten die Wähler in Deutschland zur Stimmabgabe mit „HAYIR“ (Nein) bewegen. Doch nicht alle teilen diese Ansicht. Die Kommunikation in Social Media zeichnet hier ein anderes Bild. Eine deutliche Mehrheit der Deutschtürken kann sich in den sozialen Netzwerken mit den Nazi-Anspielungen von Präsident Erdogan identifizieren. Für Zündstoff sorgen Aussagen der Kritiker, Erdogan führe die Türkei in eine Autokratie. „Nazi Vergleiche finde ich nicht schlimm (normalerweise schon) da ganz Europa ihn als Diktator beleidigt“, kommentierte ein türkisch-stämmiger Nutzer auf YouTube. Das größte Problem stellt die Diskriminierung und Benachteiligung der türkisch-stämmigen Bürger in Deutschland dar, so die vorherrschende Meinung im Web. Diese sei nach wie vor sehr groß und trage dazu bei, dass sich viele Türken in Deutschland nicht richtig integriert fühlen. Es stellt sich die Frage, ob die positive Resonanz zu den Nazi-Vergleichen aus einem indirekten Wunsch nach mehr Integration rührt oder doch von der politischen Überzeugung Erdogans ausgeht.
Wie wichtig die Präsenz politischer Gruppierungen in Social Media ist, zeigen die Wahlen im vergangenen Jahr. Im Gegensatz zu ihren Gegnern hatten Donald Trump und auch die Befürworter des Brexit im Netz über Monate hinweg die absolute Kommunikationshoheit. Die klassische Wahlprognose aus Umfragen hatte jeweils den Einfluss der sozialen Medien unterschätzt und somit falsche Wahlergebnisse prognostiziert. Richtig hingegen lagen Trendanalysen basierend auf Daten aus Social Media. Hierfür spricht im Fall der Türkei, dass viele Bürger nicht den Mut aufbringen, öffentlich über ihre Haltung gegenüber Präsident Erdogan zu sprechen. Das Internet bietet jedoch die Möglichkeit, anonymisiert und dadurch offen über das Thema zu sprechen. So gibt es in Social Media auch kritische Stimmen von türkischen Bürgern in Deutschland, welche bspw. die freie Meinungsäußerung in der Türkei anprangern. Andere werfen Erdogan vor, die europäischen Wahlkampfauftritte als gezielte Provokation missbraucht zu haben. Er möchte sich als Kämpfer gegen die großen Mächte Europas darstellen – Wahlkampfverbote in Ländern wie Deutschland spielen ihm in die Karten.
Welche Bedeutung das Referendum in anderen europäischen Ländern mit einem hohen Anteil an türkisch-stämmigen Bürgern hat, konnte in der Studie anhand der Beitragsmenge pro Tag analysiert werden.
Bulgarien und Griechenland sind, nach Deutschland, die Länder mit den meisten türkischen Staatsbürgern, dennoch ist hier die Kommunikation zum Verfassungsreferendum auffallend gering. In Deutschland wird hingegen auf Social Media sehr viel über das Thema gesprochen. Es stellt sich die Frage, ob der Wahlkampf gezielt nach Westeuropa getragen wurde, um aufzuzeigen, wie wichtig das Referendum für eine starke Türkei, im Konflikt mit den Großmächten Europas, ist.
Das niedrige Kommunikationsvolumen in den Niederlanden ist zunächst verwunderlich, da es dort ebenfalls massive Konflikte bezüglich türkischen Wahlkampfauftritten gab. Beachtet man allerdings die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen, kommen auf 100.000 Bewohner in den Niederlanden 7 Beiträge und in Deutschland 16. Die Differenz ist demnach nicht mehr so groß, wie es die absoluten Zahlen der Grafik vermuten lassen.
Die Stimmung in den sozialen Netzwerken wird auch bei dem Kopf-an-Kopf-Rennen dieser Wahl eines der ausschlaggebenden Kriterien darstellen. Es ist daher wichtig, dieses Medium in seinem Einfluss auf die Politik nicht zu unterschätzen.
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