In der Nacht vom Sonntag, 3. Mai, findet in Stuttgart ein spektakulärer Brückenschlag statt: Die Stuttgarter Strassenbahnen AG (SSB) verlängert die Stadtbahnlinie U6 von Stuttgart-Fasanenhof bis zum Flughafen. Dazu ist eine 127 Meter lange Brücke über die Autobahn A8 erforderlich. Der Brückenbogen und die Fahrbahnplatte wurden in den vergangenen Monaten direkt neben der Autobahn hergestellt. Die filigrane Netzwerk-Bogenbrücke besteht aus zwei parallelen Stahlbögen und der an Carbon-Hängern aus der Schweiz abgehängten Betonfahrbahnplatte. Die Bauleute werden den Koloss von rund 1500 Tonnen um 3:00 Uhr morgens über die gesperrte Autobahn schieben. Zu dieser Masse tragen die 72 wie Spinnfäden wirkenden Carbon-Hänger der Firma Carbo-Link AG in Fehraltorf, ein Spin-off der Empa, mit insgesamt lediglich 1675 Kilogramm jedoch kaum etwas bei.
Ein seltener Brückentyp
Seinen Anfang nahm das Projekt bereits 2012, als das Ingenieurbüro schlaich bergermann partner (sbp) aus Stuttgart den Wettbewerb für die Autobahnüberquerung der Stadtbahnlinie U6 mit ihrer eleganten Netzwerk-Bogenbrücke gewann. Im Gegensatz zu einer klassischen Stabbogenbrücke mit vertikalen Hängern überkreuzen sich die schräg angeordneten Hänger, und es entsteht der Eindruck eines feinen Seilnetzes. Eine Netzwerk-Bogenbrücke wirkt statisch wie ein Fachwerkträger, sie ist im Vergleich zu Stabbogenbrücken mit vertikalen Hängern steifer. Das heisst, die Durchbiegung unter Verkehrslast ist geringer. Dies ist besonders für Eisenbahnbrücken von Bedeutung: Sind die Durchbiegungen unter der Last eines Zugs zu gross, verkrümmen sich die Schienen, und der Zug entgleist.
Trotz dieses Vorteils wurden bisher nur wenige Brücken dieses Typus realisiert, da es mit den Stahlhängern verschiedene Probleme gab, vor allem bezüglich Ermüdung. Auch der Wettbewerbsentwurf von sbp beinhaltete zunächst Stahlseile als Hänger. Doch die Bauherrschaft zögerte mit dem Bau. Sie schätzte zwar die Eleganz der Brücke und insbesondere die stützenfreie Überquerung der acht Autobahnspuren. Die Kosten erachtete sie indes als zu hoch.
Die Lösung: Hänger aus CFK
Ausschlaggebend war schliesslich eine Idee von Lorenz Haspel aus dem sbp-Team, die Stahlseile durch vorgespannte Carbon-Hänger zu ersetzen, oder materialwissenschaftlich korrekt ausgedrückt: Hänger aus kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffen (CFK). Zum Erstaunen aller liessen sich die Kosten dadurch sogar senken. Doch im Gegensatz zu Stahlseilen waren CFK-Hänger noch kein Massenprodukt. Wer würde also die 72 erforderlichen CFK-Hänger liefern können? In einem früheren Projekt hatte Haspel mit Andreas Winistörfer, dem Gründer und CEO des Empa-Spin-off Carbo-Link, zusammengearbeitet, das seit rund 20 Jahren unter anderem CFK-Rückhaltestangen für Baukräne produziert. Diese Stangen hatten Haspel überhaupt erst auf die Idee mit den CFK-Hängern gebracht.
In Deutschland ist für neue Bauprodukte eine bauaufsichtliche Zulassung erforderlich. Eine solche zu erlangen, insbesondere für ein völlig neues Produkt, wie es CFK-Hänger zweifellos darstellten, ist in der Regel zeitintensiv und teuer. Für die Stuttgarter Stadtbahnbrücke standen aber weder Geld noch Zeit zur Verfügung. Eine «Zustimmung im Einzelfall» war die einzige Chance, und die verantwortliche Zulassungsbehörde von Baden-Württemberg stimmte zu, diesen Weg zu versuchen. Im Herbst 2016 beauftragte die SSB Winistörfer daher mit der Herstellung von drei Prototypen – und das Empa-Team um Masoud Motavalli und Robert Widmann damit, die erforderlichen Experimente durchzuführen. Für die Empa-Forscher war die Thematik nicht neu, beschäftigten sie sich doch bereits seit den 1980er-Jahren intensiv mit der Entwicklung von CFK-Zuggliedern für den Brückenbau.
100 Jahre in wenigen Monaten simulieren
Ende September 2016 lieferte Carbo-Link die Prototypen, und im Oktober begann Motavallis Team mit den mechanischen Versuchen. Die wichtigste Aufgabe bestand darin, an den CFK-Hängern 100 Jahre Bahnbetrieb zu simulieren – innert weniger Monate. Dies entspricht einer Beanspruchung von mehr als 11 Millionen Überfahrten. Die aus Zeit- und Kostengründen gewählte hohe Schwingfrequenz von 4.2 Hz führte anfänglich an den Kontaktflächen zwischen CFK und den Titankauschen zu einer gefährlichen Überhitzung. Das Projekt drohte zu scheitern, bis entschieden wurde, die aus Ehrgeiz stark übersteigerte Lastamplitude auf ein realistisches Mass zu reduzieren. Schliesslich überlebten die zwei untersuchten Hänger die rund 11 Millionen Lastzyklen problemlos.
Die Aufgabe der Empa-Gutachter Urs Meier – ein Pionier der CFK-Forschung – und Peter Richner, der heutige stellvertretende Direktor der Empa, bestand nun darin, die umfangreichen Daten zu analysieren und zu bewerten. Neben den Ermüdungseigenschaften mussten sie auch Themen wie Witterungsbeständigkeit, Blitzschlag, Brand, Einfluss elektrischer und magnetischer Felder sowie Vandalismus berücksichtigen. Am 17. Mai 2017 schickten Meier und Richner ihr Gutachten nach etwas mehr als sieben Monaten nach Stuttgart. Alle hatten unter Hochspannung und enormem Zeitdruck gearbeitet. Und dann geschah … nichts. Monate verstrichen, und sowohl der Carbo-Link CEO Winistörfer als auch Meier und Richner kamen zum Schluss: «Ausser Spesen nichts gewesen.»
Sie hatten das Projekt bereits abgeschrieben, als am 10. April 2018 plötzlich ein Schreiben der baden-württembergischen Zulassungsbehörde eintraf, das die Verwendung von CFK-Hängern beim Bau der Brücke über die A8 unter bestimmten Auflagen erlaubte. So waren unter anderem das Gutachten der Empa mit den darin enthaltenen Anforderungen den Ausschreibungsunterlagen für das Projekt beizulegen. Auf die darauffolgende Ausschreibung des Projekts ging lediglich eine Offerte ein; in Deutschland herrschte damals eine konjunkturelle Überhitzung in der Baubranche. Da die Kosten in der Offerte deutlich über dem vorgesehenen Budget lagen, sah es im Herbst 2018 für die Netzwerk-Bogenbrücke mit CFK-Hängern erneut düster aus. Das Projekt drohte aus Kostengründen endgültig zu scheitern. Doch kurz vor Weihnachten entschieden sich die Verantwortlichen überraschenderweise trotzdem für die zukunftsweisende Technologie.
Eine Weltpremiere im Brückenbau
Nun wird am kommenden Sonntag die weltweit erste grosse Brücke, die vollständig an CFK-Zuggliedern hängt, errichtet – eine Weltpremiere, zu der Carbo-Link und die Empa viel beitrugen. Vor allem die für die CFK-Variante geringeren Erstinvestitionskosten im Vergleich zur Stahlvariante hat die Fachwelt überrascht, denn in bisherigen Brückenprojekten, die nicht durch Forschungsfördergelder unterstützt wurden, hatten CFK-Zugglieder gegenüber Stahl kommerziell keine Chance. Doch das anspruchsvolle Anforderungsprofil für Hänger von Netzwerk-Bogenbrücken ist wie massgeschneidert für den Werkstoff CFK. So beträgt die Querschnittsfläche der CFK-Hänger nur ein Viertel dessen, was für Hänger aus Stahl erforderlich wäre – ein wichtiger Grund für die Wirtschaftlichkeit des neuen Werkstoffes. Mitte April erfolgte der Einbau der 72 CFK-Hänger. Dieser konnte, aufgrund des geringen Gewichtes, ohne Kran und mit lediglich drei Bauarbeitern durchgeführt werden.
Und auch punkto Nachhaltigkeit punktet die CFK-Brücke. Da im Empa-Gutachten das Thema Nachhaltigkeit von CFK-Hängern noch kein Thema war, bestanden bei den Beteiligten diesbezüglich zunächst Zweifel. Im Rahmen eines weiteren Projekts für eine noch grössere Eisenbahn-Netzwerk-Bogenrücke über die Oder zwischen Küstrin-Kietz und dem polnischen Kostrzyn konnten Empa-Forscher diese «Lücke» kürzlich schliessen. Die Ergebnisse sprechen eindeutig für die CFK-Variante. So sind etwa die CO2-Emmissionen für die Stahlvariante rund dreimal höher und der Energieaufwand mehr als doppelt so hoch.
Die CFK-Hänger der Stuttgarter Stadtbahnbrücke dürften für zukünftige Netzwerk-Bogenbrücken wegweisend sein. Es dürfte für CFK-Zugglieder aber noch weitere Nischen geben, in denen sie gegenüber Stahl nicht nur technisch, sondern auch kommerziell konkurrenzfähig sind. Ein Beispiel sind die enorm langen Seile weit gespannter Schrägseilbrücken in Asien. Doch das schnelle Geld ist mit innovativen Materialien im Baubereich nicht zu verdienen, hat es doch rund 40 Jahre intensiver Forschung und enormer Beharrlichkeit erfordert – vor allem von Urs Meier und seinem Team –, um CFK im Bauwesen zum Durchbruch zu verhelfen. «Das ist fast schon absurd lange», so Peter Richner. «Genau aus diesem Grund haben wir vor einigen Jahren unsere Demonstrationsplattform NEST ins Leben gerufen, um Innovationen im Bau- und Energiebereich deutlich schneller als das in die Praxis umzusetzen.»
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