Der Mythos der unschlagbar guten Kabinenluft in Flugzeugen

Da ist sie wieder, die Luftqualität in Flugzeugen, die angeblich viel besser ist als anderswo, weil es "mehr Luftzirkulation" gäbe (Karl Lauterbach). Daher verdiene die Luftfahrt eine Sonderbehandlung, wenn es um eine Maskenpflicht geht. Schon der ehemalige Verkehrsminister Andreas Scheuer hatte im Jahr 2020 Informationen aus der Luftverkehrsbranche erhalten und entsprechend im Flugzeug eine hohe "Frischluftquote" ausgemacht zusammen mit einem "Klimavorhang". Von allen Seiten wurde damals schon erklärt, dass die Luft im Flugzeug durch die Filter "so sauber wie in einem Operationssaal" sei. Prof. Dr. Scholz beschreibt die Kabinenbelüftung in Flugzeugen und setzt die Argumente in einen Gesamtzusammenhang.

Aktuell musste Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklären, warum das, was er eigentlich wollte, nämlich die FFP2-Masken an Bord von Flugzeugen ab Oktober, nun doch nicht erforderlich ist. Er sagte in einer Pressekonferenz (6.9.22): Das Tragen von Masken sei in Bussen und Bahnen sinnvoll und notwendig. In Flugzeugen sei die Lage etwas anders – unter anderem, da an Bord durch Filteranlagen mehr Luftzirkulation herrsche.

Im Interview von NDR-Info (7.9.22, 7:58) ergänzte er, dass der Unterschied in der Belüftung von Bahn und Flugzeug physikalisch bedingt sei. Das Ansteckungsrisiko in Räume mit hohen Decken wäre geringer. Flugzeuge würden (im Unterschied zur Bahn) so eine hohe Decke aufweisen. Weiterhin sei ein Maskengebot im Flugzeug nicht durchsetzbar. Es würde nicht sinnvoll sein, ein Gesetz zu erlassen, wenn es nicht beachtet wird.

Welche Erkenntnisse liegen gesichert vor zum Thema? Eine Ansteckung kann im Flugzeug erfolgen durch eine erkrankte Person als direkter Sitznachbar, auf der gleichen Bank, in der gleichen Sitzreihe, oder wenige Sitzreihen entfernt (WHO 2009). Wenn die erkrankte Person atmet oder gar hustet oder nießt, dann können sich Sitznachbarn anstecken, weil die Viren sich mit kleinsten Tröpfchen (den Aerosolen) ausbreiten. Je näher jemand bei einer erkrankten Person sitzt und je länger der Flug dauert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung. Im Flugzeug sitzen wir bekanntlich besonders eng und auf Langstrecke auch lange zusammen. Studien haben gezeigt, dass keine Person an Bord sicher vor Ansteckung ist, wenn eine erkrankte Person an Bord ist (Olsen 2003). Masken helfen, sind aber keine Garantie gegen Ansteckung. FFP2-Masken sind besser als OP-Masken.

Ein Flugzeug ist kein geschlossenes System wie ein U-Boot. Das Flugzeug wird mit Luft von außen belüftet. Das ist insbesondere wichtig, um das beim Atmen entstehende CO2 aus der Kabine abzuführen. Die Außenluft muss vom geringen Außendruck auf den höheren Kabinendruck gebracht werden. Das kostet Energie. Es muss auch die entstehende Wärme der vielen Passagiere abgeführt werden. Dazu soll mehr Luft eingesetzt werden. Um nicht noch mehr Luft von außen verdichten zu müssen, wird Luft im Kreis geführt (rezirkuliert). Damit das Flugzeug keine Virenschleuder wird und Viren aus der ersten Reihe über die Klimaanlage nicht bis in die hinterste Reihe verteilt werden, gibt es in der Rezirkulation der Luft die HEPA-Filter (Schwebstofffilter), die sogar Viren recht zuverlässig herausfiltern können. Die Hälfte der Luft, die in die Kabine geführt wird ist Außenluft, die andere Hälfte ist rezirkulierte Luft. Nur die Außenluft sorgt für eine ausreichend niedrige CO2-Konzentration, weil die HEPA-Filter kein CO2 filtern können. Außenluft und rezirkulierte Luft zusammen sorgen aber für einen Wert der Virenkonzentration in der Kabine, die nur halb so hoch ist, wie sie durch Außenluftbelüftung allein wäre (Bild 1).

Also: Die HEPA-Filter senken die Virenkonzentration, können die Viren aber nicht aus der Kabine beseitigen, weil die Viren direkt in die Kabine eingebracht werden und erst danach in die Filter gelangen. Für eine mögliche Ansteckung im Flugzeug ist maßgeblich, ob es eine oder mehrere erkrankte Personen in der Nähe gibt. Die Wirkung der HEPA-Filter ist dabei sekundär. Im Unterschied zum möglicherweise erkrankten Sitznachbarn befindet sich die HEPA-Filter weit weg im Frachtraum. Die Masken befinden sich aber zwischen den Passagieren als Barriere (Bild 2).

Maßgeblich für die Belüftung ist der Volumenstrom an Frischluft pro Person. Dazu schreiben die Zulassungsvorschriften (CS 25.831) umgerechnet mindestens einen Volumenstrom von 5 Liter pro Sekunde pro Passagier (18 Kubikmeter pro Stunde) vor. Was das bedeutet wird deutlich im Vergleich zu einer Wohnung. Meine Wohnung z. B. ist mit einer Belüftungsanlage ausgestattet. Mein Arbeitszimmer erhält 25 Liter pro Sekunde (90 Kubikmeter pro Stunde) – also pro Person 5 mal so viel Luft, wie eine Person im Flugzeug.

Nehmen wir an, dass im Flugzeug pro Person 2 Kubikmeter Luft zur Verfügung stehen, dann wird die Luft im Flugzeug theoretisch 18/2 = 9 mal pro Stunde ausgetauscht. Die Anzahl der theoretischen Luftwechsel pro Stunde wird Luftwechselrate genannt. Ein theoretischer Luftaustasuch im Flugzeug dauert dann 1/9 Stunde oder 6,7 Minuten. In meinem Arbeitzimmer mit 36 Quadratmetern und 2,5 Metern Deckenhöhe (Volumen: 90 Kubikmeter) wird die Luft theoretisch nur einmal pro Stunde ausgetauscht. Die Luftwechselrate im Flugzeug ist 9 mal so hoch. Trotzdem ist die Belüftung meines Arbeitszimmers deutlich besser als die Belüftung im Flugzeug (Bild 3).

Eine hohe Deckenhöhe (wie von Lauterbach angeführt) führt zu einem großen Volumen, welches die Luftwechselrate (auf die es nicht ankommt) verringern würde. Wichtig ist der Luftvolumenstrom pro Passagier.

Fazit: Es wird der Fehler gemacht die Luftwechselrate heranzuziehen, die für das Flugzeug beeindruckend hohe Werte hat (9), aber unmaßgeblich ist. Ein kleines Volumen pro Person (wie im Flugzeug) ergibt eine hohe Luftwechselrate. Maßgeblich ist und bleibt der Luftvolumenstrom pro Passagier.

Die Luftwechselrate hat eine Bedeutung bei dynamischen Vorgängen, wenn es z. B. darum geht, eine spontan aufgetretene Rauchwolke schnell aus dem Flugzeug zu bringen. Hier geht es aber um quasistationäre Zustände während eines ganzen Fluges. Es ist daher auch nicht so, dass Viren in 6,7 Minuten das Flugzeug verlassen haben. Wenn eine erkrankte Person im Flugzeug ist, dann sind auch Viren dauernd vorhanden, weil eine erkrankte Person kontinuierlich Viren aussendet – nicht nur beim Einsteigen.

Der Vergleich Flugzeug – Bahn: Die Belüftung mit einem Volumenstrom an Luft pro Passagier ist in der Bahn vergleichbar mit der im Flugzeug. Auf die Art der Filter kommt es dabei primär nicht an. Einen gravierenden Unterschied in der Deckenhöhe zwischen Flugzeug und Bahn kann man nicht ausmachen. Das Sitzen ist in der Bahn bei durchschnittlicher Verkehrssituation weniger beengt. Im besten Fall können Abstände in der Bahn daher besser gewahrt werden als im Flugzeug. In der Bahn steht mehr Volumen pro Passagier zur Verfügung. Das bedeutet, dass nur der Parameter der  unmaßgeblichen(!) Luftwechselrate schlechter ausfällt als im Flugzeug. Für den Belüftungsvergleich zwischen Flugzeug und Bahn müssen viele Parameter herangezogen werden. Die Werte sind sehr ähnlich, Unterschiede gleichen sich aus. Auf dieser Basis kann eine radikale Entscheidung zur Maskenpflicht (hier ja, dort nein) physikalisch nicht begründet werden.

In der aktuellen Situation wurde wieder einmal mit dem unpassenden Parameter "Luftwechselrate" Stimmung gemacht, um die Maskenpflicht im Flugzeug zu kippen. Die Wirkung des HEPA-Filters wurde dabei ebenfalls wieder falsch eingeschätzt. Die Argumentation hatten wir bereits im Jahr 2020.

In der aktuellen Situation wird nicht erwähnt, dass ein Maskengebot im Flugzeug einen Schutz der Gesundheit der Kabinenbesatzung bedeuten würde, die beim Service extrem engen Kontakt zu den Passagieren hat. Dabei sind die Masken der Passagiere wichtiger als die Masken der Crew. Ohne Maskengebot bei Flügen müssen Flugbegleiter und Flugbegleiterinnen die Erlaubnis erhalten, individuell selbst zu entscheiden, ob sie eine Maske bei der Arbeit tragen möchten oder nicht.

Es ist nicht einzusehen, warum ein Maskengebot in der Bahn leicht durchsetzbar sein soll, im Flugzeug hingegen sehr schwierig. Es ist auch merkwürdig, Gesetze nicht nach Sinnfälligkeit zu erlassen, sondern nach erwartetem Widerstand. Das würde bedeuten, dass die Bevölkerung in der Lage wäre, unliebsame Gesetze und Verordnungen (z. B. ein Tempolimit) durch systematische Regelverletzung abzuschaffen oder zu verhindern. Der Unterschied ist, dass es sich bei der Maskenpflicht im Flugzeug nicht um einfache aufbegehrende Bürger handelt, die vorstellig werden, sondern um einen einflußreichen Bereich der deutschen Wirtschaft, der durch Verbände gut und durchsetzungsstark organisierte ist. Maßgeblich dabei die Lufthansa, die einen Wettbewerbsvorteil (Komfortvorteil) gegenüber der Bahn erhält, wenn im Flugzeug exklusiv auf Masken verzichtet wird. Am Ende geht es immer nur um’s Geld.

Weitere Informationen:

Internetseite http://corona.ProfScholz.de

Vortrag:

"Aircraft Cabin Ventilation in the Corona Pandemic – Legend and Truth"

https://doi.org/10.5281/zenodo.5356568

PrePrint:

"Aircraft Cabin Ventilation Theory"

https://doi.org/10.31224/osf.io/ac6p8

Zur Situation der Flugbegleiter:

"COVID-19 in the Airline Industry: The Good, the Bad, and the Necessary" (US-Sicht)

https://doi.org/10.1177/10482911221101429

Andreas Scheuer, Aviation Summit 23.07.2020, Frischluftquote und Klimavorhang

https://youtu.be/tGXNK9Y40AQ?t=55

https://youtu.be/tGXNK9Y40AQ?t=335

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Aircraft Design and Systems Group (AERO) ist die Forschungsgruppe für Flugzeugentwurf und Flugzeugsysteme im Department Fahrzeugtechnik und Flugzeugbau der HAW Hamburg. AERO führt wissenschaftliche Mitarbeiter zur kooperativen Promotion und bearbeitet Projekte aus Forschung, Entwicklung und Lehre.

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