Friedenstaube mit Regenbogenflügeln

Bang! Der schwungvoll bemalte Abschnitt einer alten Stützmauer an der Ober-Ramstädter Schulstraße zieht die Blicke von Passanten und Autofahrern auf sich. Nicht nur wegen seiner wohltuenden Farbigkeit, auch wegen der erzählenden Elemente, die sich Schülerinnen und Schüler der Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule, einer integrierten Gesamtschule, ausgedacht haben, um den politischen Wandel seit 1933 in Form eines gemalten Zeitraffers zum Ausdruck zu bringen. Aus der anfänglichen Düsternis kippt das zwei Meter hohe Wandbild, das sich über 13 Meter erstreckt, ins Bunte um – ins Hier und Jetzt.

Die Reihe beginnt mit dem ernsten Gesicht eines älteren Mannes in Schwarz-Weiß und endet vielfarbig mit den Buchstaben GCLS, den Initialen der Schule. Den Betrachtern drängen sich mehrere Fragen auf: Wer ist der Dargestellte? Welche Bedeutung hat die lange Nummer über seinem Porträt? Und genau dieser Effekt ist gewünscht.

Das Wandgemälde ist das optische Ergebnis einer Projektwoche der Lichtenbergschule, in der lange darüber diskutiert wurde, welche Form von Erinnerungskultur in die Zeit passt und junge Leute anspricht. Die Schüler waren berührt und beeindruckt von der Lebensgeschichte des Julius Bendorf (1915 – 2016), eines ehemaligen Ober-Ramstädter Bürgers, der früher als Sportler erfolgreich war und dessen Schicksal beispielhaft für das vieler Juden in der Nazizeit ist. Zwar hat er das Lager Auschwitz überlebt, aber alle Angehörigen kamen in den Konzentrationslagern um. Nach dem Krieg baute er sich ein neues Leben in Amerika auf. Viel später, nachdem vor seinem ehemaligem Haus in der Darmstädter Straße Stolpersteine der Erinnerung verlegt worden waren, hat Bendorf seine Vaterstadt mehrfach besucht, den Dialog mit jungen Leuten gesucht und sich immer für Verständigung und Aussöhnung eingesetzt. Ober-Ramstadt machte ihn zum Ehrenbürger. Im KZ war er zur Nummer degradiert worden, und an diese Häftlingsnummer, Symbol für Leid, Schmerz und Erniedrigung, wird auf der Mauer mahnend erinnert.

Am Anfang der Komposition ist Bendorf als älterer Mann und, etwas kleiner, als junger Sportler abgebildet. Weil ihn mit den Schülern etwas Wichtiges verbindet, nämlich der Heimatort Ober-Ramstadt, prangt nun das Wappen der Stadt groß auf der Mauer. Gehalten wird es von einer Friedenstaube, deren Flügel in den Regenbogenfarben, dem Symbol für Vielfalt, aber auch für Ober-Ramstadt („Stadt der Farben“), schillern. Das Wort Vielfalt ist auf ukrainisch, portugiesisch, japanisch, polnisch und farsi aufgepinselt und weist auf die internationale Zusammensetzung der Klassen in der Georg-Christoph-Lichtenberg-Schule hin. Mit dem Bild des Stolpersteins für Bendorf und den Initialen der Schule endet der Zeitstrahl. Es ist ein Hinweis darauf, dass heute zum Glück andere Werte gelten als während der Nazi-Zeit.

Ideen und Skizzen für das Projekt haben die Schülerinnen und Schüler der elften Klasse im Kunstunterricht von Anne Walz entwickelt. Bei der Umsetzung ihrer Entwürfe beriet sie der Darmstädter Diplom-Kommunikationsdesigner Jörn Heilmann, den Anne Walz bei einem Malprojekt der Nieder-Ramstädter Diakonie kennengelernt hatte. Die Stadt Ober-Ramstadt unterstützte das Schülerprojekt, indem sie den arg verschmierten Mauerabschnitt gründlich renovieren ließ. Abends wurden die Umrisse der Skizzen (Outlines) mit Hilfe eines Beamers im passenden Größenverhältnis auf den neuen, glatten Verputz übertragen. Die ganze Farbpalette von AmphiColor Vollton- und Abtönfarbe von Caparol stand den Schülern dank einer Spende der Firma zur Verfügung, worüber Jörn Heilmann sehr froh war: „AmphiColor ist top, bietet bestmögliche Deckkraft und lässt sich toll streichen.“ Zusätzlich sorgte er für Farbspraydosen und Pinsel.

Bei der Malaktion wurden die Elftklässler von Mitschülern, Geschichtslehrer Harald Höflein, der sich stark für die Erinnerungskultur einsetzt, und Lehrerin Lea Kimmerle unterstützt. Heilmann vermittelte ihnen die Grundlagen der Gestaltung, gab ihnen den Tipp, eine klare Formensprache, etwa den Streetartstil, zu wählen und überladene Entwürfe zu abstrahieren.

Das erste Treffen hatte schon im März stattgefunden, an drei Tagen im Juli wurde das Projekt schließlich zum Abschluss gebracht. „Anfangs waren alle heiß auf die Sprühdosen“, erzählt Heilmann, „aber ich habe ihnen Mut gemacht, den Pinsel in die Hand zu nehmen, weil man damit detaillierter arbeiten kann.“ Wichtig war ihm, dass alle Beteiligten Spaß hatten. Probleme gab es beim Malen nicht – und wenn doch, wurde das Problem kreativ umgedeutet.

Die Lehrkräfte lernten ihre Schüler von einer neuen Seite kennen, und die Schüler schwärmten so sehr von der „coolsten Projektwoche, die wir jemals gemacht haben,“ dass die jüngeren Klassenkameraden neidisch wurden. „Es war schön zu beobachten, wie unsichere Schüler im Umgang mit der Farbe an Selbstbewusstsein gewonnen haben“, sagt Lehrerin Lea Kimmerle. „Jeder hat seinen Part gefunden. Manche klecksten die Farbe großzügig wie Jackson Pollock an die Wand, andere waren detailversessen. Aber alle konnten sich in einer entspannten Stimmung ohne Druck ausprobieren.“ Sie war beeindruckt von dieser „anderen Art von Lernen“, bei der so viel passiert, ohne dass man es bewusst wahrnimmt.

Bei den Nachbarn löste das Mauergemälde Lob und Freude aus. Manche sagten, jetzt werde die „Stadt der Farben“ ihrem Namen mehr gerecht, und Ober-Ramstadt dürfe noch bunter werden. Alle Beteiligten hoffen, dass die Malaktion fortgesetzt werden kann, denn die lange Mauer hat noch viel Freifläche, die nach Gestaltung verlangt. Aber erst muss die Stadt ihre Zustimmung geben. Vielleicht lässt sie sich ja von der Begeisterung der Lichtenbergschüler mitreißen. „Wir könnten doch nach den Ferien gleich weitermachen“, schlagen sie vor.

Petra Neumann-Prystaj

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